Herr oder Frau Schmerz
Lieber Schmerz oder liebe Schmerzin,
Heute Morgen hast du mich begleitet, als ich aufgestanden bin, um zur Toilette zu gehen. Irgendwie war alles steif und stakelig, die Finger, na ja, die Gelenke in den Fingern taten mir weh, die Muskeln in den Beinen, im Grunde im ganzen Körper.
Sicher, nicht mehr so arg, wie noch vor einer Woche. Tut mir leid, aber ich bin froh darum, dass ich dich etwas vertreiben konnte, wenigstens etwas. NEIN, ES TUT MIR NICHT LEID. Mag sein, dass du darüber traurig bist, aber ich nicht. Ich bin froh darüber, dass ich diese endlose Hoffnung, dass du verschwindest, zumindest zu einem Teil erfüllt sehe. Dieses Hinnehmen, dass du mit unausweichlicher, raumeinehmender Nähe durch meinen Körper ziehst. Ich stell mir vor, wie freudig du Gelenk für Gelenk, Muskel für Muskel dein Eigen nennen willst und ich ständig gegen dich kämpfe, um mir die Macht über meinen Körper zurückzuholen. Du bist griesgrämig darüber und strafst mich noch mehr, indem du versuchst meine Beine zu kapern. Nein, das will ich nicht zulassen und lege mich aufs Bett, konzentriere mich auf dich und versuche dich durch bewusstes Anspannen und Entspannen zu vertreiben. Du, der in müheloser Leichtigkeit immer wieder meine Achtsamkeit umschifft, es dir schon wieder gefahrlos gelingt, grausame und bittere Pfeilspitzen in meine Muskeln zu treiben, die tiefe und verzehrende schlechte Gefühle vorantreiben.
Nein, diesmal nicht!
Diesmal treib ich dich in die Enge, verdränge ich dich aus den mir gehörenden Regionen der Fasern, die du dein Heim nennen willst. Nein, sage ich! Es ist nicht dein Heim. Allenfalls bist du auf Besuch, aber solche Besucher mag ich nicht. Besucher, die mir schlechte Gefühle bereiten, die mich zu Tränen rühren, Tränen, die kommen, ob ich will oder nicht. Nein, sag ich! Schließlich gehe ich mit Menschen, die mir nicht gut tun, auch keinen Kaffee trinken. Also, warum sollte ich es zulassen, dass du mit überschwänglicher Freude meinen Körper als dein Heim benutzt?
Nein, sage ich!
Ich sehe zu, im Geiste, wie du griesgrämig und missgelaunt von dannen ziehst. Faser für Faser erobere ich mir zurück. Mit Schweißtropfen auf der Stirn zwinge ich mich ruhiger zu atmen, und mit jedem neuerlichen Atemzug verdränge ich dich aus wieder einer Faser, Stück für Stück. Ich will dich nicht, du endlos verderblicher und diabolischer Schmerz, der mich zu strafen scheint. Nein! Strafe? Für was? Ich habe nichts getan, was auch nur im Geringsten deine Anwesenheit rechtfertigen würde. Es gibt keinerlei Grund dafür und genau deswegen musst du gehen. Für heute zumindest gewinne ich. Gewinne ich Raum, gewinne ich Zeit, Zeit für mich ohne diese gänsehauttreibenden, zitternden Momente, die mein Gesicht zur Fratze werden lässt. Nein! Ich will davon keine Falten bekommen. Ich will ein Lachen haben, ein ehrliches Lachen und keines, an dem im Grunde jeder sieht, ok, - sie lacht zwar, aber irgendetwas stimmt nicht -. Ich will, dass mich jeder lachen sieht und mit lacht, weil es ein Lachen ist, eine Freude, die ansteckt. Ich weiß, dass es so sein kann.
Es gab derer Zeiten schon genug.
Und im Geiste sehe ich dich verkümmern, in einem moorigen Teich, stelle ich mir vor, versinkst du, ganz langsam, hilfeschreiend die Arme ausstreckend, aber keiner kommt, um dich zu retten. Keiner will dich. KEINER! Und du wirst kleiner, exorbitant klein, so dass ich aufstehe, deutlich merke, wie du, der schwindende, versinkende Schmerz, unablässig um Hilfe schreit, nein, sogar brüllt, doch ich gewinne. Gewinne an Raum, an Zeit und Faser für Faser gehört wieder mir. Mir ganz allein. Für heute zumindest lasse ich keinen Raum mehr für dich lieber Schmerz. Ich habe keine Zeit heute für dich, ich will heute mal tun, was ich will, ohne dich als ständigen, verlangsamenden Begleiter zu haben.
Heute gehört mein Körper mir. Mir allein.
Ich habe heute gewonnen und morgen, morgen kämpfe ich wieder gegen dich und ich drohe dir jetzt schon an, dass du auch morgen verlieren wirst. Ich bin stärker als du.
Ich gewinne!
Eure Manuela Maer