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    Blick ins Buch!

Durch mich gelangt man in die
Stadt der Schmerzen,
durch mich zu wandellosen
Bitternissen,
durch mich erreicht man die
Verlorenen Herzen.
Gerechtigkeit hat mich dem Nichts
entrissen; mich schuf die Kraft,
die sich durch alles breitet,
die erste Liebe und das höchste Wissen.
Vor mir ward nichts Geschaffenes bereitet, nur ewges Sein, so wie ich ewig bin: Lasst jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet.

(Dante Alighieri (1265-1321), italienischer Dichter)

 

Rastatt 2004
Schmunzelnd verschwand sie in der Tiefe des Kellers. Julia und Steven bewaffneten sich ebenfalls mit den Taschenlampen und folgten ihr. Der Weg führte sie über ein paar ausgetretene Steinstufen. Schließlich fanden sie sich inmitten von altem Gerümpel wieder: Ein altertümlicher Handkarren, zwei Schlitten, die fast auseinanderfielen, antike Skier aus Holz, unzählige Blechtöpfe und noch mehr dick verstaubte Einmachgläser. Immer wieder fuhren sich die drei Eindringlinge mit den Händen über das Gesicht, um die Spinnweben zu entfernen, die über ihren Köpfen hingen. Vor Aufregung klopfte Julias Herz fast hörbar, ihre Wangen nahmen immer mehr Farbe an und kalter Schweiß rann ihr die Stirn herunter. Steven erging es nicht anders. »Hatschi!«, hallte es plötzlich laut und Frau Yourigca putzte sich erst einmal die Nase. »Ganz schön staubig hier«, nuschelte sie unter dem Taschentuch hervor. Angestrengt durchleuchteten alle drei den Raum, der bis unter die niedrige Decke mit Regalen, Schränken und diesem alten Plunder zugestellt war. Es roch unglaublich modrig und feucht. »Mein Bekannter meinte, wir erkennen den Durchgang daran, dass er mit Brettern vernagelt ist. Wir müssen also hinter die Regale und die Schränke leuchten. An die Wände ...!« Sie hatte schon damit begonnen und die beiden taten ihr nach. Kurz darauf hörten die Frauen Steven durch die staubige Luft rufen. Er hatte tatsächlich hinter einem Stapel alter Holzkisten eine Wand entdeckt, die offensichtlich mit Brettern zugestellt war. Nachdem sie erst einmal wieder hinaus ins Freie huschten, um frische Luft zu atmen, machten sie sich gemeinsam daran, die Kisten auf die Seite zu räumen. Im Schein der Taschenlampen schwebte mittlerweile in dicken Schwaden der aufgewirbelte Staub durch die Luft. Sie hatten Glück. Die groben alten Dielen waren nur an die Wand gestellt und nicht miteinander vernagelt. Sie konnten sie einfach zur Seite legen und damit tatsächlich einen Durchgang freiräumen, der abermals in die dunkle Tiefe führte. »Ihr wartet hier, ich gehe vor!«, mahnte Steven und schon verschwand er.
    Wenige Sekunden danach hörten sie ihn rufen. »Kommt runter, hier ist ein weiterer Raum. Passt auf, stoßt euch nicht den Kopf an. Es ist alles sehr niedrig hier.« Fasziniert und mit flatterndem Herzen zugleich, standen die Frauen kurz darauf bei ihm. Ein rostiges schmiedeeisernes Tor versperrte jetzt den Weg. »Helft mir suchen. Hier muss irgendwo der Stein sein, in dem der Schlüssel zu diesem Schloss abgebildet ist«, flüsterte Frau Yourigca geheimnisvoll. Sofort begannen alle drei, nach dem Abbild eines Schlüssels Ausschau zu halten. Julia fand ihn zuerst, am Boden, direkt unter der Eisentür. Der abgebildete Schlüssel war nicht viel größer als der Erste, nur diesmal zeigte die Form des Kopfes einen Kreis, durch den ein gerader Strich führte. Natürlich fanden sie diesen Schlüssel in der Dose. Es wurde ihnen immer klarer, dass sie der richtigen Spur folgten.
Für Momente war die Dunkelheit vergessen und die Anspannung stieg. Gleichzeitig, als wäre es abgesprochen, hielten alle kurz die Luft an. Vorsichtig schob Sheila den Schlüssel ins Schloss. Er ließ sich, wie erwartet, kaum bewegen. »Steven, reich mir bitte das Öl-Spray!« Und tatsächlich, nach wenigen Sekunden ließ sich der Schlüssel halbwegs gut drehen und das kratzende Geräusch klang in den Ohren der drei Abenteurer wie Musik. Tief atmeten alle hörbar durch. Julia schwitzte inzwischen vor Aufregung am ganzen Körper und auch bei Steven machten sich die Spuren des Nervenkitzels unter seiner Jacke deutlich bemerkbar.
    Jetzt gelangten sie in einen niedrigen Gang, in dem sie leicht geduckt gehen mussten. Mit Moos und Efeu bewachsene, schmutzige Wände umfingen sie, Geröll lag am Boden. Becher und anderes altes Essgeschirr aus Blech bedeckten an der Wand entlang den Boden. Es roch nach Urin. Zwei alte Öllampen, die Glasscheiben schon zersprungen, lagen am Weg. Eine Metallspitze, einem Bajonette nicht unähnlich, lag, wie zufällig dort abgelegt, auf einem dick verstaubten Hocker. »Was war das?«, schrie Julia unvermittelt auf, als sie einen Luftzug spürte. Frau Yourigca versuchte sie sogleich zu beruhigen. »Pst, nicht so laut. Ich schätze, das kommt durch einen Belüftungsschacht. Wir sind wahrscheinlich nicht weit von den freigemachten Kasematten entfernt. Oder ...?« Sie leuchtete in eine Nische und sah, dass sie richtig vermutet hatte. Steven folgte ihr und musste unwillkürlich lachen. »War das mal eine Latrine?« Frau Yourigca nickte ihm zu und suchte weiter die Wände ab. Endlich fand sie, was sie sich erhofft hatte.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe einen feuchten, mit moosbedeckten Stein an. Unschwer war auch hier ein Schlüsselabdruck zu erkennen. Mindestens 20 Zentimeter lang, ziemlich dick und klobig. Der Kopf des Schlüssels ähnelte einer Brezel. In der Dose kramend, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt, blickte Frau Yourigca nach kurzer Zeit auf. »Die Schlüssel in der Dose sehen anders aus. Dieser hier weist uns sicher nur den Weg. Bestimmt finden wir noch mehr Abdrücke, die so aussehen. Ihr müsst die Wände absuchen. Ich denke, es kann nicht mehr weit sein.« In der Tat entdeckten sie auf ihrem Weg noch zwei weitere Abdrücke des gleichen Schlüsselbildes. Im Folgenden, nach weiteren geschätzten 30 Metern, standen sie plötzlich vor einer Mauer. Sackgasse, hier schien der Weg zu enden. Enttäuscht, die Nerven zum Zerreißen angespannt, hätte Julia in dem Moment am liebsten wieder angefangen, zu heulen. Dessen ungeachtet wollte keiner die Hoffnung aufgeben. Wieder ließen die drei den Lichtkegel wandern, keinen Millimeter auf der Suche nach einem Hinweis ließen sie aus. Schließlich wurden sie für ihre Hartnäckigkeit belohnt. Steven fand ein paar Meter zurück einen schmalen, kreisrunden Durchlass hinter einem Gitter, ähnlich einem Lüftungsgitter. Darunter befand sich ein weiterer Abdruck. Den hatten sie wohl in der Aufregung übersehen. »Schnell, kommt her!
Hier gelangt man auf allen Vieren durch. Es ist zwar ziemlich schmutzig, aber einen Versuch ist es wert. Am besten gehe ich wieder vor.« Noch bevor Julia etwas sagen konnte, verschwand er. Die Hände der Frauen berührten sich wie zufällig und ohne Worte hielten sie sich gegenseitig. Sheila legte fürsorglich den Arm um die Schultern der vor Aufregung zitternden Julia. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie die Stimme von Steven erneut hörten. »Kommt rüber, es ist nicht weit. Hier muss der offiziell freigelegte Gang der Kasematten sein.« »Du zuerst!« Schon schob Sheila Julia vor, indem sie ihren Kopf leicht herunterdrückte und achtgab, dass sie sich nicht stieß. Kaum war sie verschwunden, krabbelte Frau Yourigca ihr hinterher. Tatsächlich, nach ungefähr zweieinhalb Metern konnten sie aufrecht stehen. Ab hier war alles sauber instand gesetzt und renoviert. Lampen hingen an den Decken und sogar ein Schild mit einigen Erklärungen befand sich an der Wand gegenüber. Nachdem Steven den Frauen aus dem kleinen Tunnel herausgeholfen hatte, lehnte er ein Gitter an die Wand darunter, dass genauso aussah, wie das auf der anderen Seite. Dieses Gitter hatte er mühevoll wegschieben müssen, um heraus zu gelangen. Sie hatten Glück gehabt, dass es nur lose befestigt gewesen war. Da er jetzt das Schutzgitter direkt unter dem Durchschlupf abstellte, war er sich sicher, konnten sie den Rückweg nicht verfehlen. »Wohin jetzt?«, in Julias Stimme hörte man unverkennbar ihre Verzweiflung. Steven hatte sich schon einige Meter weiter gewagt und rief
aufgeregt die Damen zu sich. Er deutete auf einen Stein, der den gleichen klobigen Schlüsselabdruck zeigte wie die Vorhergehenden. Zehn Minuten später und nach weiteren vier Schlüsselsteinen standen sie vor einer Prägung, die anders aussah. Zwar klobig, wie der Abdruck zuvor, doch dieser Schlüsselkopf wirkte eher wie eine Krone. Erleichtert entdeckten sie, dass sich ein Schlüssel in der Dose befand, dessen Kopf dieser Krone glich. Allerdings stellte sich die Frage, zu welchem Schloss er gehörte. Augenscheinlich zeichnete sich hier nämlich keine Tür ab, sondern nur alter renovierter Sandstein. Gewissenhaft suchten sie diese Wand ab. Nach mehrfach wiederholtem Ableuchten der gleichen Stellen fiel ihnen endlich auf, dass sich ein Gesteinsblock unwesentlich von seinen Nachbarn unterschied. Ein kaum sichtbares, kreisrundes Loch befand sich etwa in Hüfthöhe. Das erklärte, warum sie diese Stelle zunächst übersehen hatten. Sheila reagierte zuerst. »Schnell, gib mir bitte das Öl. Ich besprühe den Schlüssel damit. Der passt ganz bestimmt in dieses Loch. Ich fress einen Besen, wenn das nicht funktioniert.« Alle drei hielten die Luft an, als Sheila Yourigca den klobigen Schlüssel durch das Loch schob. Sofort spürte sie einen leichten Gegendruck, wackelte sachte hin und her, zog ihn wieder heraus und träufelte noch mal von dem Öl darüber. Vorsichtig führte sie ihn wieder ein, wartete wenige Sekunden und versuchte dann, ihn herumzudrehen. Überraschenderweise traf sie diesmal auf nicht viel Widerstand. Das sich öffnende Klicken hallte ihnen laut entgegen. Sheila zog erschrocken ihre Hand weg. Fassungslos, doch zugleich neugierig, starrten sie alle auf den Schlüssel, der sich mit einem Mal wie von Geisterhand bewegte. Sie hatten einen versteckten Mechanismus in Gang gesetzt. Wieder und wieder hörten sie ein Knacken, ein Schleifen und ein Aufeinanderreiben von Steinen. Plötzlich, mit einem leisen Zischen, zog sich die Wand vor ihnen etwas zurück, bevor sie mit lautem Getöse langsam im Erdboden versank. Ein Durchgang von etwa 70 Zentimetern Breite und gerade mal einen Meter sechzig Höhe tat sich vor ihnen auf. Eiskalte, modrige Luft strömte ihnen entgegen. Bei allen Dreien breitete sich in Sekundenschnelle eine Gänsehaut über den Körpern aus. Steven wandte sich sogar ab und musste hörbar einen Würgereiz unterdrücken.