Es ist kalt auf dem Bahnsteig, obwohl die aufgehende Sonne einen wunderbaren Tag ankündigt. Der wolkenlose Himmel lässt den Blick weit in die Troposphäre hinein zu und für einen Moment halte ich inne und verfolge mit meinem Blick ein Flugzeug.

Wohin es wohl fliegt?

Eine Durchsage beschallt den Bahnsteig, ich erschrecke, da ich fast unter dem Lautsprecher stehe und somit die volle Dröhnung abbekomme. Der soeben angekündigte durchfahrende Güterzug bringt jede Menge kalte Luft mit sich und ich ziehe meine dicke Jacke fester um mich herum. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich mich für die Winterjacke entschieden habe.

Es ist erst März – noch empfindlich frisch.

Mir fällt heute auf, dass deutlich weniger Menschen auf dem Bahnsteig sind als sonst, wenn ich meine Reise nach Hamburg antrete. Eine latente Ruhe erfasst mich. Keine Hektik, keine stressigen, vorbeihetzenden Menschen. Ein ruhiges Unterfangen, was mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Eine weitere Durchsage ertönt – mein Zug fährt ein.
Wie immer betrachte ich die Mitreisenden in meinem Abteil und versuche mir vorzustellen, was sie wohl so für ein Leben haben. Im Geiste scheibe ich Geschichten zu jeder einzelnen Person – gespickt und getrieben durch die Eindrücke, die ich empfinde. Da ist die Oma, die schräg vor mir sitzt. Sie schaut traurig, ja fast ängstlich. Ich denke, dass sie nicht oft mit der Bahn unterwegs ist, und ich erfinde in meinen Gedanken den Grund ihrer Reise. Sie besucht sicherlich ihren Mann, der in einer fernen Stadt, in einer Reha-Klinik, seiner Genesung nach einem Herzinfarkt, entgegenschaut. Sie hofft, dass sie ihn bald wieder zu Hause – bei sich – hat. Verstohlen schaut sie sich ständig um, jedes Geräusch lässt sie zusammenzucken und als ich gerade zu ihr hinschaue, treffen sich unsere Blicke. Sie ist wirklich ängstlich. Ich lächle sie an. Sie ist irritiert, dann erwidert sie das Lächeln. Langsam dreht sie sich zur Seite, behält das Lächeln bei und ich kann deutlich sehen, dass sich ihre Hände öffnen. Sie scheint sich zu entspannen.
Weiter vorne sitzt ein Paar. Ich kann nicht sagen, ob sie zusammengehören. Anhand der Unterhaltung, die ich bis zu mir hören kann, scheinen sie Kollegen zu sein. Offensichtlich haben sie nicht reserviert und hoffen, dass niemand kommt und die Plätze, auf denen sie sitzen, beansprucht. Ah, ja, und sie müssen auf eine betriebliche Fortbildung nach Hamburg. Es geht um Internetsicherheit – Cyberscurity . Sie erzählt ihm mit lauter Stimme – ich fürchte fast, dass auch die Fahrgäste im nächsten Waggon sie hören – dass ihr Mann während ihrer Abwesenheit das Kinderzimmer der Tochter renoviert. Ok, sie ist also verheiratet und die beiden sind tatsächlich Kollegen. Kurz danach berichtet er von einer Kollegin aus seiner Abteilung, dass eben diese sich die Haare ganz kurz geschnitten hätte. Es hat wohl für mächtig Aufsehen gesorgt, da sie wohl zuvor einen immensen Lockenkopf gehabt hatte und dann kaum einer sie gleich erkannt hätte, was für Aufruhr gesorgt habe. Beide lachen - laut. Ich schaue zwischen den Sitzen hindurch nach vorn und was sehen meine Augen, er nimmt in diesem Moment ihre Hand und gibt ihr darauf einen Kuss.

Wow,… Kollegen also.

Mein Blick wandert zurück zur Oma, die diese liebevolle Geste ebenfalls gesehen hat. In dieser Sekunde weiten sich ihre Augen – sicherlich vor Entsetzen. Immerhin hat sie freilich das Gespräch auch verfolgt. Sie dreht sich herum, schaut mich an. Deutet mit dem Kopf zu dem skandalösen Paar, schaut mich wieder an, grinst und verdreht ihre Augen. Hier wird echt etwas geboten.
Halt in Frankfurt.
Jetzt füllt sich das Großraumabteil. Das Kollegen-Paar kann seine Sitzplätze noch behalten. Ein Mann, etwa so alt wie ich – schätzungsweise – setzt sich in die Reihe neben mir. Nur der schmale Gang trennt uns. Freundlich grüßt er mich still, verstaut sein Gepäck, zieht seine Jacke aus und setzt sich. Es vergehen keine drei Minuten packt er sein Notebook aus und tippt wie wild auf der Tastatur. Kaum zu glauben, dass dieses wilde Herumtippern klare, verständliche Sätze hervorbringen kann – denke ich. Nun, ich tippe auch recht schnell, doch ich glaube, dass ich ein geordneteres Tippen habe, wie er. Jetzt steckt er sich noch Ohrstöpsel in die Ohren. Dass sind so Dinger, die ohne Kabel funktionieren. Plötzlich fängt er an zu sprechen – ich erschrecke, weil er lauter spricht, als er sollte – kein Wunder, er hat ja seine Ohren verstöpselt.
Auch die Oma ist erschrocken – sie schaut zu mir.
Er redet etwas von Quartalszahlen und positiven Entwicklungen. Ich schau zu ihm hin. Er bemerkt es, hält inne, nimmt einen Ohrlautsprecher heraus und fragt mich ganz leise, ob er zu laut sei. Ich muss Lachen, auch die Oma lacht. Ja klar, bei ihm, so sage ich ihm, hört wahrscheinlich noch der Zugführer vorn in der Lok, was er redet. Er merkt, dass ich es nicht böse meine und lacht selbst, verabschiedet sich von seinem Gesprächspartner und beendet das Gespräch. Dann meint er – wohl mehr ins Abteil hinein – er könne ja auch seinem Kollegen schreiben. Dass sei dann weniger aufdringlich. Kurz blicke ich zu ihm hin und nicke ihm zu, einfach damit er sieht, dass ihn jemand wahrgenommen hat. Dann tippt er los und ich frage mich in derselben Minute, ob sein Notebook jetzt um Hilfe schreit. Das Tippen ist beinahe so laut wie sein Telefonat – ja OK – fast. Ganz ehrlich, was hat er für ein vorsintflutliches Notebook, dass es so laut ist, wie eine Schreibmaschine. Was hat er für Finger, die wie Betonklötze auf die Tasten knallen.

Ich bedauere das Gerät.

Zeitweise schwelt leises Gemurmel im Abteil, weil mehrere Gespräche übereinander die Luft in Schwingung versetzen. Das zwielichtige Kollegenpaar allerdings höre ich immer wieder deutlich heraus. Dazu das Klack-Klack-Klack von dem Herrn neben mir, der sicherlich gerade von innerer Freude durchströmt ist, weil er durch die positive Geschäftsentwicklung eine Sonderprämie bekommt. Bilde ich mir ein. Ich lehne mich zurück und schließe meine Augen. Angestrengt versuche ich einen Takt herauszuhören. Und tatsächlich klappt es. Gepaart mit den Zuggeräuschen des Fahrwerkes klinkt es wie Filmmusik zu einem Thriller – die Spannung durch das schnelle Klack-Klack-Klack vorangetrieben.
Ich muss unwillkürlich Lächeln.
Meine Phantasie sprießt geradezu in Höchstform und ich überlege mir gerade, ob ich nicht mal einen Zug-Krimi schreiben soll. Vielleicht mit ein bisschen Fantasy gespickt, oder auch nicht. Vielleicht finde ich dafür ja sogar einen Sponsor?
Ich klappe mein Notebook zu und lasse meinen Gedanken freien Lauf.

Ob ich bei den beiden vorne mal nachfrage, was inzwischen aus der Kollegin mit dem nicht mehr vorhandenen Lockenkopf geworden ist? Und welche Farbe das Kinderzimmer gestrichen wird?

Aber nein … entspannt genieße ich die Zugfahrt, lasse mir einen Kaffee bringen und freue mich auf die kommenden Tage.