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    Blick ins Buch!

Ȇber den Bach sich beugen,
tief das Haupt verneigen
vor dem reinen und klaren
in dem hellen und wahren
Wasser, das Vater und Mutter,
Schwester und Bruder,
Sein und Leben
und alles dir ist.«

Dr. Carl Peter Fröhling (*1933), deutscher Germanist, Philosoph und Aphoristiker

Forbach - Ortsteil Bermersbach, Februar 2015
Das aufsteigende Licht der Sonne hatte gerade begonnen, sich mühevoll durch den Frühnebel zu kämpfen. Ein tiefes Motorengeräusch erstreckte sich kilometerweit durch den Wald und hallte aus der Ferne zurück. Kleine Steinchen spritzten zur Seite. Etwas zu schnell fuhr Ortsbauamtsleiter Drillich den Gemeindewagen den Glücksweg entlang. Zum Wandern war er am Montag in der Frühe allerdings nicht unterwegs. Spaziergänger hatten am Sonntag eine Entdeckung gemacht.
Völlig aufgelöst hatte ein Familienvater auf den Anrufbeantworter der Gemeinde gesprochen, während der Rest der Familie im Hintergrund nicht zu überhören war. An Sonntagen arbeitete hier niemand im Rathaus, und so verstand Drillich nicht, dass sich die Ausflügler darüber auch noch aufregten. Zumindest wurde man wirklich nicht schlau aus den aufgekratzten Worten. Wenigstens erwähnte der Mann mehrmals den Glücksweg, ein Wasserbecken und etwas, das in der Mauer steckte. Die Mitarbeiterinnen am Empfang des Rathauses schlossen daraus, dass wohl das Stauwehr gemeint war, das sich am Stutzbach auf etwa einem Drittel der Wegstrecke befand. Der Glücksweg gehört zu den zahlreichen Wanderwegen, die diese Region bietet, recht nah an dem kleinen Bergdorf Bermersbach gelegen, welches idyllisch eine Bergkuppe säumt.
Seit Tagen schon erfreute trockenes, sonniges Wetter die Gemeinde. Kaum zu glauben, dass es zwei Wochen zuvor noch geschneit hatte. Nicht umsonst behaupteten Einheimische, man befände sich hier auf der Sonnenterrasse des Murgtales. Vor einigen Jahren erst hatte man das 625-jährige Bestehen des 750-Seelen-Dorfes gefeiert, das sich mit seinen Häusern inzwischen weit die Hänge hinunterzog. Schönes Dorf hin oder her. Es half alles nichts. Die Kollegen vom Bauhof hatten heute Morgen keine Zeit, den Hinweisen der Spaziergänger nachzugehen, folglich lag es heute am Ortsbauamtsleiter, die Meldung zu überprüfen.
Abrupt trat er auf die Bremse. Zwei streitende Elstern kreuzten mit lautem Gekreische seinen Weg. Der Wagen kam zum Stehen und hinterließ dabei eine Bremsspur auf dem taunassen Feldweg. Sein Herz schlug doppelt so schnell, als er feststellte, dass der Wagen sehr nah an die stark abfallende Böschung gerutscht war. Kopfschüttelnd und verärgert atmete er tief durch. Im Schritttempo lenkte er den großen Jeep zurück in die Wegmitte, und mit deutlich gedrosselter Geschwindigkeit näherte er sich seinem Ziel. Ein Stück weiter vorn stellte Drillich den übergroßen SUV ab. Bewaffnet mit einer kleinen Kamera, einer Taschenlampe und einem Rucksack mit Werkzeugteilen marschierte er die wenigen Schritte bis zur rot-weißen Absperrung. ´Die hätten hier unten gar nicht sein dürfen! Was hatten die da zu suchen? ` Vorsichtig betrat er den schmalen Pfad, der sich durch das Gestrüpp abwärts schlängelte. Das dürre Gras war feucht und glitschig. Trotzdem kam er immer wieder gerne hierher. Dieser Ort hatte etwas ganz Eigenes an sich. Die Natur zeigte sich inzwischen sehr bemüht, den Zugang zum Wehr vor den Blicken Neugieriger zu schützen. Da der Pfad weiter oben offener lag, hatte man Absperrbalken aufgestellt, eigentlich, um zu verhindern, dass keiner dort hinunterkletterte. Es gab keine Sicherung um das Becken herum, somit war es für Neugierige zu gefährlich, es zu betreten.

Zu dieser Jahreszeit allerdings konnte er das Stauwehr schon von oben einsehen. Nebelschwaden schlierten über dem Becken umher und spiegelten sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Ein eher unheimlicher Ort inmitten des Waldes. Unbedeutende Waldgeräusche, fast nur Stille, empfingen ihn, als er unten ankam und seinen Blick über das Staubecken wandern ließ. Unwillkürlich hielt er kurz den Atem an. ´Wo um alles in der Welt soll ich mit der Suche nach dem angeblichen Fund beginnen?` Vorsichtig trat er weiter an die bemooste Stauwehrmauer heran. Der Stutzbach trennte ihn vom eigentlichen Wehr. Zumindest heute donnerte er in einem kräftigen kleinen Strom über die Betonstufen.
Mittlerweile hielt Drillich die Taschenlampe in der Hand, deren Strahlpunkt er schmaler stellte, um gezielt kleine Bereiche auszuleuchten. In dem Moment, als er über die schmale Betonbrücke zum eigentlichen Staubecken hinüberwollte, fiel ihm linker Hand auf, dass der untere Bereich der Mauer unter dem Moos und herunterhängendem Gestrüpp brüchige Stellen zeigte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und die Stelle fixierend, richtete er den Strahl der Taschenlampe genau auf diesen Punkt. Er konnte kaum glauben, was er sah. Sein Blick wanderte flüchtig zu seinen Füßen. Die Schuhe reichten zwar über die Knöchel und waren für solche Untergründe perfekt geeignet, allerdings nicht tauglich, um damit im Wasser zu stehen. Er zögerte. Immerhin könnte er auch zurück zum Wagen eilen, um die Gummistiefel zu holen, die im Kofferraum lagen. Die kühlen Temperaturen zeigten seine deutlich erhöhte Atemfrequenz. Das Adrenalin putschte ihn mehr und mehr auf. Seine für wenige Momente andauernde Regungslosigkeit endete unversehens darin, dass er sich vorsichtig auf eine der Betonstufen hinabließ. Als das eiskalte Wasser sich in Bruchteilen von Sekunden seinen Weg durch das Schuhwerk bahnte, zog er zischend die Luft durch die Zähne. Er spürte den Druck des vorbeifließenden Wassers, bemerkte aber schnell, dass er ohne Probleme stehen konnte. Sich an der Mauer abstützend, das Licht der Lampe genau auf die auffällige Stelle gerichtet, schob er sich Stück für Stück näher heran. In der Tat, seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt und die Spaziergänger hatten recht behalten. Deutlich klaffte eine poröse Mulde in der Mauer, aus der tatsächlich einige Knochen herausragten. Seine Fassungslosigkeit wuchs umso mehr, je genauer er erkannte, was er da vor sich hatte. Für Sekunden schloss er die Augen und atmete tief durch. Zog dann seinen Rucksack vom Rücken und kramte hektisch einen Pickel hervor. Mit Schwung schleuderte er danach den Rucksack auf den kleinen Zugangssteg. Hauptsache, er konnte den Blick für kurze Zeit woandershin richten.
Es half nichts.
Sein Herz schlug wild, die Hände zitterten und das lag nicht daran, dass er im eiskalten Wasser stand, welches unaufhörlich seine Füße umspülte. Erneut schloss er, schnell durchatmend, seine Augen und wandte sich zögernd der Stelle zu. So langsam es ihm irgendwie möglich war, krochen jetzt seine Pupillen nach oben. Noch nie hatte der Ortsbauamtsleiter so etwas in der Realität gesehen. Es kostete ihn zuerst einiges an Überwindung genauer hinzusehen. Doch so sehr ihn der Anblick anfänglich erschreckte, so rasch wandelte sich dieses Empfinden in Neugierde. Dadurch angetrieben konnte er ab dieser Sekunde den Blick nicht mehr von dem schadhaften Bereich in der Mauer lösen. Vorsichtig schabte er um die Knochen herum das Moos zur Seite. Unmittelbar bestätigte sich die Information, die seine Sinne ihm schon ein paar Minuten zuvor gesendet hatten, er aber nicht hatte glauben wollen.
Ein Schädel schaute zur Hälfte aus der Mauer heraus, und eines war sicher:
Es war ein Menschenschädel.